Der 44. fdr+sucht+kongress am 22./23. Mai in Weimar befasste sich mit dem Thema „Einmal Stigma – immer Stigma?“ Entstigmatisierung als Haltung und Aufgabe in Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe.
Es ist mittlerweile 6 Jahre her, dass unter der Leitung von Prof. Dr. Georg Schomerus das Memorandum mit dem Titel „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht wurde. Die Autoren des Memorandums kamen damals zu dem Schluss, dass Entstigmatisierung nur dann funktionieren kann, wenn ein besserer, alternativer Umgang mit Suchtkrankheiten aufgezeigt wird. Hilfe statt Ausgrenzung, Befähigung statt Abwertung müssen im Mittelpunkt eines stigmafreien Umgangs mit Suchtkrankheiten stehen. Die Empfehlungen, die das Memorandum in den Bereichen „Qualitative Verbesserung im Hilfesystem und bei der Prävention“, „Befähigung (Empowerment)“, „Kommunikation und Koordination“, „Forschung“ sowie „Konzeptionelle und rechtliche Weiterentwicklungen“ gibt, beschreiben Schritte auf dem Weg zu einem besseren, stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten.
Wie weit sind wir in der Zwischenzeit gekommen? Und was gibt es noch zu tun?
Diese Fragen wurden in 2 Grußworten, 5 Vorträgen und 14 Seminaren diskutiert mit folgenden Ergebnissen:
- Immer noch gilt: Je schwerer eine Person von Sucht betroffen ist, desto mehr Hilfe benötigt sie, aber desto mehr wird sie auch ausgegrenzt. Sucht- und Drogenpolitik muss für die Menschen da sein, nicht gegen sie.
- Entstigmatisierung fängt bei der Sprache an: Wir brauchen eine unaufgeregte Diskussion um Sprache, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken. Auch wenn es keine einfachen Antworten gibt, ist Sorgsamkeit ein guter Anfang.
- Werbeverbote im Bereich der Genussmittel und des süchtigen Verhaltens sind insgesamt ein wichtiges Mittel, auch im Bereich der Sportwettenwerbung müssen sie unbedingt umgesetzt werden.
- Hilfsangebote müssen flexibler in Bezug auf Verfügbarkeit, Kennzeichnung, Niedrigschwelligkeit und Prävention.
- Wir brauchen eine durchgängige Haltung von Wertschätzung, Akzeptanz, Umgang auf Augenhöhe, unterstützender Umgang mit Widerstand.
- Zusammenhänge von Selbststigmatisierung, Behandlungsbereitschaft, Selbstwirksamkeit und Abstinenzzuversicht müssen mehr in die Behandlungen mit einbezogen werden, z.B. Psychoedukation oder Behandlung nach den Quellen der Selbstwirksamkeit von Bandura.
- Perspektive der Selbstwirksamkeit / Möglichkeit der Selbstheilung muss stärker in die Angebote mit aufgenommen werden.
- Das Selbstheilungskapital von Betroffenen muss wahr genommen werden auf sozialer, materieller, humaner und kultureller Ebene. Selbstheilung ist erwiesen und möglich.
- Digitale Angebote in Prävention, Beratung, Behandlung und Selbsthilfe können mit großer Reichweite und niedrigschwellig den Umgang und die Wahrnehmung von Suchterkrankungen positiv beeinflussen und damit letztlich auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene einen wichtigen Beitrag leisten zur Entstigmatisierung von Suchterkrankungen.
- Vor allem im Bereich der niedrigschwelligen und aufsuchenden Angebote braucht es weiteren Ausbau bzw. müssen die bestehenden Angebote teilweise noch deutlich niedrigschwelliger werden: Nur 13 % der Betroffenen suchen im 1. Jahr Hilfe, zum Teil weil sie sich selbst stigmatisieren (Stichwort: “internalisierte Stigmatisierung“), zum Teil weil sie strukturelle Stigmatisierung befürchten, z.B. das sogenannte Labeling: „Einmal süchtig, immer süchtig.“ Neben aufsuchenden, anonymen und digitalen Angeboten sind ein guter Umgang mit der Cannabisregulierung, flächendeckend Konsumräume und Drugchecking wichtig.
- Der Umgang mit Cannabis muss deutlich versachlicht werden. Cannabis muss als Medikament mit anderen Medikamenten gleich gestellt werden. Die moralische Bewertung von Cannabisblüten muss ebenso beendet werden wie deren künstliche Verteuerung.
- Erwachsene Angehörige müssen mehr empowert und regelhaft in Hilfesysteme mit einbezogen werden. Ihre Sorge und ihr berechtigter Hilfewunsch dürfen nicht als „Co-Abhängigkeit“ abgestempelt und ggf. nicht ernst genommen werden. Die sogenannte „Co-Abhängigkeit“ existiert erwiesenermaßen nicht und sollte als Krankheitsbegriff für Angehörige suchtkranker Menschen nicht mehr verwendet werden.
- Angehörige Kinder müssen in den Blick genommen werden, die Familien müssen die nötigen Hilfen erhalten Þ Stichwort Integrierte Versorgung
- Auch Quartiersarbeit kann nur gelingen, wenn Fachkräfte eine hohe Akzeptanz der Menschen vor Ort mitbringen, deren Perspektive einnehmen können, bestenfalls mit Kenntnis von innen heraus und ressourcenorientiert arbeiten.
- Für präventive Angebote wichtig:
- Sie müssen insgesamt ressourcenorientierter werden: Entwicklung von Gesundheitskompetenz – nicht Abwehr von Krankheit!
- Prävention beginnt schon in der Kindertagesstätte. Gesundheitsverhalten sollte Aufnahme in das Grundschul-Curriculum finden.
- Gute Prävention heißt auch das Erlernen von Konsumkompetenz: Aber Vorsicht: das darf nicht bedeuten, dass die Verantwortung nur bei den Einzelnen liegt!
- Mehr Kampagnen zur Stärkenorientierung sind notwendig.
- Konzept der Drogenmündigkeit: „Akkulturation“ im Umgang mit Cannabis ist zu fördern
- Policy-Mix zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention hat sich bewährt
- Netzwerke und Zusammenarbeit sind wichtig, u.a.:
- Stationäre und ambulante Hilfen
- Beratungsstellen und niedrigschwellige Hilfen
- Sozialarbeit und Medizin
- Suchthilfe und Jugendhilfe/Erziehungshilfe
- Sozialarbeit und Schulen
- Suchthilfe und Frauenhilfe /Gewaltschutz
- Suchthilfe und LSBTIQ
- Kommunale Angebote und Sozialarbeit
- Netzwerke in der Prävention: wir wollen nicht in erster Linie Sucht verhindern, wir wollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene so stärken, damit sie nicht ausgegrenzt, süchtig, gewalttätig o.ä. werden
- Das bedeutet insgesamt auch, dass die Grenzen zwischen den Sozialgesetzbüchern durchlässiger werden müssen.
*Das benötigte Passwort, um die Präsentationen herunterzuladen, kann über mail@fdr-online.info angefordert werden.